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Aufsätze
"Wir, Tolstoi und der freie Geist" – Kurzfassung


Vortrag von Barbara Kosariszuk



Der Vortrag ist eine Würdigung der Streitschriften Tolstois im 19.Jh., deren wesentlicher Inhalt darin besteht, für eigene, grundtiefe Überzeugung zu kämpfen, unter Inkaufnahme der Exkommunizierung und gesellschaftlichen Ächtung.

Der russische Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Tolstoi fand seinen Eingang in die Weltliteratur insbesondere durch die Romane: Anna Karenina, Krieg und Frieden und eine Reihe von Erzählungen.

Weit weniger berühmt sind Abhandlungen wie: „Die Kritik der dogmatischen Theologie“, in welchen sich der Dichter in einem wahren Seelenkampf kompromisslos streitbar mit der kirchlich organisierten Religion und dem Kirchenchristentum auseinandersetzt.

Ausgang für seine neue Weltanschauung, die auf profunder theologischer Forschungsarbeit beruht, war ihm sittliche Pflicht, war sein moralischer Anspruch, nach dem Geiste der Lehre Christi zu suchen. So begab er sich an die Reinigung der Lehre von den „Zutaten und Verstümmelungen, durch die der Eigennutz herrschsüchtiger Fürsten und Priester sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben“.

Nach Wahrheit zu suchen, bedeutete für Tolstoi seinen Lebenssinn zu finden über die Lösung des Widerspruchs zwischen antrainiertem Glauben und kritischem Verstand. Tolstoi wirft Grundfragen des menschlichen Lebens auf, mit den Worten:
„Auf meine Frage: Was hat mein Leben auf dieser Welt für einen Sinn? lautet die Antwort also: … dieser Gott, halb Mensch, halb Ungeheuer hat … eine sonderbare Welt geschaffen …und zu allem hat er gesagt, dass es gut sei, es ist aber alles sehr wenig gut geworden. …Ich bin … verloren, wenn ich das Unglück habe, die Forderungen meiner Vernunft für gerecht zu halten und sie nicht abschwöre“.

Ein weiteres Zitat von Tolstoi lautet:
„Auf meine Frage, wie soll ich leben, gibt mir diese Lehre eine Antwort, die alles leugnet, wonach mein moralisches Gefühl Verlangen trägt und fordert, was mir immer als das Unsittlichste vorgekommen ist, nämlich, dass ich heucheln soll.
… Aus allen Anwendungen der Dogmen auf die Moral folgt nur immer ein und dasselbe:
Suche Erlösung im Glauben …und wie kann ich nach dem Guten streben, wenn das wichtigste Glaubensdogma darin besteht, dass der Mensch selbst nichts vermag, und dass ihm alles - ohne seinen Verdienst – durch die Gnade zuteil wird … die Gnade aber wird mir durch die Sakramente der Kirche mitgeteilt, folglich muss ich …Popen um mich haben oder im Kloster leben.

Und die orthodoxe Kirche? Damit kann ich keine andere Vorstellung mehr verbinden, als die von einer Anzahl sehr selbstbewusster und verirrter, wenig gebildeter Leute, die in Samt und Seide mit Brustbildern von Heiligen einhergehen und Erzbischöfe und Metropoliten genannt werden. Wie kann ich jetzt noch an die Kirche glauben, wenn sie auf die tiefsten Fragen der Menschheit nach dessen Seelenheil mit plumpen Betrügereien und albernem Humbug antwortet und behauptet, niemand dürfe sich erdreisten, anders auf die Fragen zu antworten“.

Nach dieser massiven Kirchenkritik läge die Vermutung nahe, Tolstoi hätte sich zum Atheisten entwickelt. Tatsächlich aber stellt er in seinem Werk „Mein Glaube“ dar, dass Glaube notwendig sei und allen Menschen zur Lebensgrundlage dient.
Zitat: „Christi Lehre ist die Lehre vom Leben, nur muss man sie ganz verstehen und unbeeinflusst von den Formen nehmen, die ihr die Kirche gegeben hat“.
Tolstoi stellt fünf Gebote in Aussicht, … „deren Ausübung das Glück aller Menschen dauernd sichert … nur muss man sich lossagen von einer 1800jährigen vermeintlichen christlichen Lebensgestaltung und von dem Irrtum, dass der Einzelne gegenüber den herrschenden Mächten nicht imstande sei, die Gebote Christi zu erfüllen“.






Toleranz -

ein schwieriges und ein ambivalentes Konzept



von Robert Zwilling, Heidelberg



Vor einigen Jahren schlenderte ich durch Zürich, um mir die Innenstadt anzusehen.

Ohne etwas besonderes im Sinn zu haben, betrat ich dabei auch die Fraumünster-Kirche und las im Eingangsportal an der Wand die Zeile:

„J’etais étranger et vous m’avez accueilli“

Hierauf war ich in keiner Weise vorbereitet. Aber der Spruch drang augenblicklich an meinem Verstand vorbei tief in mein Gefühl ein und löste eine starke emotionale Bewegung in mir aus. Ich war bewegt. Ich war betroffen. Ich musste schlucken.

Ich fragte mich alsbald, wie ist eine solche nicht gerade gewöhnliche Reaktion überhaupt zu erklären ? Ich war mir lediglich sicher, dass ich in diesem Augenblick nicht mein ethisches Ego aufpolieren wollte und dass ich auch nicht auf das Wohlwollen einer überirdischen Macht spekulierte.

Als Biologe aber weiß ich, dass solche Emotionen von unserem limbischen System gesteuert werden, in welchem unbewußt viele Vorerfahrungen und ein umfangreiches Vorwissen verarbeitet und schließlich zu einer emotionalen Bewertung und Reaktion zusammengefasst werden. Zu solchen vorhandenen Gedächtnisinhalten dürften im vorliegenden Fall eine Vorstellung von Toleranz und eine Idee von Solidarität gehört haben, aber auch ein Gefühl für Fremdsein und das Wissen um das Schicksal der „povera gente“, der waldensischen Einwanderer nach Deutschland, welche meinen Geburtsort gegründet haben. Hinzu kam passenderweise noch der Gebrauch der französischen Sprache. Und Zürich war ja der historische Ort, an welchem viele der waldensischen Flüchtlinge eine erste brüderliche und tolerante Aufnahme fanden.

Mir scheint das eine typische Reaktion zu sein, welche Toleranz produziert.

Ich nehme solche Erfahrungen und Überlegungen zum Anlass, um einmal über das Wesen und die Bedeutung von Toleranz nachzudenken.

* * *

Die Idee der Toleranz ist ein schwieriges und ein ambivalentes Konzept.

Zu den Grundlagen unserer Existenz und unseres Selbstbewusstseins gehört es, dass wir uns als Individuen erfahren und dass wir uns als „Ich“ empfinden.

Wir sehen und beurteilen die Welt von da aus, wo wir als Individuen gerade sind.

Diese Erfahrung wird begleitet von einem natürlichen Überlebens- und Selbstbehauptungs-Willen, von einem Ego-ismus, der von diesem „Ich“ ausgeht und der zunächst einmal alles andere überlagert. Das Eigeninteresse und der Eigennutz des Individuums tragen in sich eine lebenserhaltende Rechtfertigung und es wäre bloß ein törichter Selbstbetrug, wenn sich jemand von uns davon freisprechen wollte.

Nun steht aber die Idee der Toleranz dem, was wir gerade als den bestimmenden Beweggrund unseres Handels definiert haben, diametral gegenüber.

Denn tolerant sein heißt ja, zurückzuweichen, ein Stück von dem preiszugeben, was wir als unser gerechtfertigtes Eigeninteresse oder gar als unsere Identität empfinden. Weshalb sollten wir daher tolerant sein ?

Es wird nicht leicht sein, diese Diskrepanz aufzulösen. Dies zeigt sich bereits daran,

dass sich wohl ein jeder von uns als „im Grunde tolerant“ bezeichnen wird. Folglich müssten wir in einer toleranten Welt leben, was aber nicht der Fall ist. Man wird diesen Widerspruch am ehesten mit einer irreführenden, subjektiven Selbsteinschätzung erklären können.

Es genügt offenbar auch nicht, Toleranz einfach in den Rang einer Tugend zu erheben und dies undifferenziert mit der Forderung zu verbinden, der Mensch möge tugendhaft sein.

Denn der Ausgangspunkt, welcher Toleranz auslöst, hat mit Tugend zunächst nichts zu tun.

Wir müssen ja zuerst einmal gegen etwas sein und etwas ablehnen und eine Opposition aufbauen, damit der Toleranzbegriff überhaupt einen Sinn bekommt und Anwendung finden kann. Gegenüber Personen, Vorgängen und Meinungen, welche wir akzeptieren, braucht es keine Toleranz, da wir ja von vorneherein mit ihnen übereinstimmen.

Denn was wir später tolerieren, sehen wir zunächst einmal als falsch an. Wäre dies nicht der Fall, dann hätten wir es nicht mit Toleranz, sondern entweder mit Indifferenz oder mit Zustimmung zu tun.

Bei dem Fremden aber, den ich bei mir aufnehme, muss ich zunächst ein Gefühl gegen das Fremde und mir nicht eigene überwinden, um dann möglicherweise zu einer toleranten Haltung zu gelangen. Ich muss zusätzlich bereit sein, etwas Materielles mit ihm zu teilen, was ich vielleicht lieber für mich behalten wollte und ich muss Mühen auf mich zu nehmen, die ich gerne vermieden hätte.

* * *

Toleranz hat Grenzen.

Der Heidelberger Philosoph Rüdiger Bubner hat Toleranz als „ein überschießendes Angebot menschlichen Wohlwollens“ bezeichnet. Trotzdem ist evident, dass dieses „Überschießen“ irgendwie an Grenzen stoßen muss, soll Toleranz nicht ihren eigentlichen Sinn verlieren.

Toleranz wird ausgelöst durch das Abweichen von einer Norm in einem Ausmaß, welches wir als noch hinnehmbar empfinden. Daher kann Toleranz nicht grenzenlos sein. Eine grenzenlose Toleranz würde zur Selbstaufgabe führen.

Eine schrankenlose Hingabe meiner Interessen bis zur Aufgabe meiner Identität an einen Anderen, müsste zudem an diesen die Frage auslösen, wie es mit dessen eigenem Wohlwollen mir gegenüber bestellt ist und wann seine eigene Toleranz zur Geltung kommt.

Weit vorher werden wir daher unserer Toleranz Schranken setzen durch das von uns als gerechtfertigt angesehene Eigeninteresse. Es gehört zum Wesen der Toleranz, dass diese Grenzen nicht von vorneherein definierbar sind, dass sie unserer subjektiven Einschätzung unterliegen, dass sie situationsabhängig sind, und dass sie dem Wandel der Zeiten unterworfen sind.

In diesem Zusammenhang wird auch gerne darauf verwiesen, dass es berechtigt, ja notwendig sei, den Feinden der Toleranz mit Intoleranz entgegenzutreten.

Paul Ricoeur hat diesem Gegensatz-Paar Toleranz / Intoleranz eine weitere Kategorie hinzugefügt, das Nicht-Tolerierbare. Für ihn ist „allein das Intolerante nicht-tolerierbar.“ Diese Erweiterung hat den Vorteil, dass damit der Begriff Intoleranz als das genaue Gegenteil von Toleranz erhalten bleibt.

Der italienische Philosoph und große Vordenker der Menschenrechte, Norberto Bobbio, versucht das Wesen der Toleranz weiter aufzuhellen, indem er eine positive von einer negativen Toleranz und ebenso eine positive von einer negativen Intoleranz unterscheidet.

Es müsse klargestellt werden, dass der Begriff Toleranz zwei Bedeutungen habe, eine positive und eine negative, und das gleiche gelte auch für den Gegenbegriff der Intoleranz.

Während er in der positiven Toleranz einen grundlegenden Wert für ein freies und friedliches Zusammenleben sieht, verbindet er die negative Toleranz mit Nachsicht und Duldsamkeit gegenüber dem Bösen, Irrtum oder Prinzipienlosigkeit, eine Vorliebe dafür, seine Ruhe haben zu wollen, oder auch mit Blindheit gegenüber den Werten. Zudem sei nur eine negativ verstandene Toleranz grenzenlos, und dies bringe am Ende dann sogar die Idee der Toleranz überhaupt in Misskredit.

Die Verfechter der Intoleranz bedienten sich nun des negativen Toleranzbegriffs, um die Toleranz insgesamt abzulehnen.

Intoleranz im positiven Sinne dagegen sei ein Synonym für Strenge, Konsequenz und Standhaftigkeit, und das seien Qualitäten, die zu den Tugenden gehörten.

Während in den despotischen Gesellschaften ein Mangel an Toleranz im positiven Sinne herrsche, litten andererseits unsere permissiven demokratischen Gesellschaften an einem Übermaß an Toleranz im negativen Sinne, einer Toleranz, die alles laufen und durchgehen lasse.

In einer Betrachtung weist Rainer Forst, Professor am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, darauf hin, wie weit und unbestimmbar der Begriff wird, wenn wir einmal das breite Spektrum von Motiven und Handlungen betrachten, die unter der Bezeichnung „Toleranz“ zusammengefasst werden. Wir finden diesem Autor zufolge die verschiedensten Auffassungen,was Toleranz überhaupt sei, nämlich :

  • Eine joviale und väterliche Geste gegen Menschen und Meinungen, die zwar von uns nicht geachtet, aber auch nicht als gefährlich angesehen werden.
  • Eine soziale Verfallserscheinung aus Nachgiebigkeit, Gleichgültigkeit und Urteilsschwäche.
  • Ein Aushalten von Unterschieden, das auf Selbstvertrauen und Charakterstärke beruht.
  • Ein Gebot der Nächstenliebe
  • Eine minimale und schwache Form der Anerkennung, die bestenfalls eine Koexistenz hervorbringt.
  • Ein Ausdruck wechselseitigen Respekts unter Menschen, die sich trotz aller Unterschiede in wesentlichen Punkten als Gleiche achten.
  • Ein Zeichen von Solidarität für den Fremden und der Wertschätzung einer Pluralität von Lebensformen und Werten.
  • Eine Notwendigkeit angesichts der Tatsache, dass Überzeugungen nicht erzwingbar sind und die Freiheit des Gewissens folglich nicht einschränkbar ist.

Toleranz kann sowohl von Organisationen wie von einzelnen Personen ausgeübt werden.

So ist die Unterscheidung einer institutionellen oder staatlichen Toleranz von einer individuellen oder persönlichen Toleranz ganz wesentlich. Entsprechend unterscheiden sich die jeweiligen Motive und Gegebenheiten, welche die Entscheidungen und das Handeln bestimmen und die daher auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.

Staatliches Toleranz-Verhalten wird meist von der Staatsraison und von Nützlichkeitserwägungen bestimmt.Die Geschichte lehrt, dass auch die Institution Kirche hiervon keine Ausnahme macht. Wo Staaten oder Institutionen glauben, ihre Interessen, ihren Zusammenhalt oder auch nur den ‚status quo’ verteidigen zu müssen, findet jede Toleranz ein rasches Ende. Mit jedem Wechsel der Politik geht daher in aller Regel auch ein Wechsel im Hinblick auf die Toleranz einher.

Individuelles oder persönliches Toleranzverhalten wird dagegen eher von Emotionen, dem Mitgefühl, „dem Gewissen“ oder auch individuellen Einsichten gesteuert, Kategorien, welche dem institutionellen Handeln fremd sind. Der Staat ist zu einem „überschießenden Angebot menschlichen Wohlwollens“ nicht fähig.

Daher erhebt sich die Frage, wie weit Institutionen jenseits von Nützlichkeitserwägun-gen überhaupt zur Toleranz prädestiniert sind und ob nicht der Begriff Toleranz in einem moralischen Sinne dem ethischen Handeln des Individuums vorbehalten bleiben muss.

Der Münchener Jurist Hans Markus Heimann geht sogar so weit, die Forderung nach einem toleranten Staat als einen Anachronismus zu bezeichnen.

Für den heutigen Verfassungsstaat sei der Begriff Toleranz ein „aus traditioneller, gedanklicher Gewohnheitgewonnenes Klischee“, eine nicht näher konkretisierte, formelhafte Wendung, was den Begriff in diesem Zusammenhang zu einer „substanzlosen Hülle“ und zu einer „leeren Phrase“ werden ließe.

In der Tat kommt der Terminus „Toleranz“ im Grundgesetz der Republik Deutschland an keiner Stelle vor.

Einander widersprechende Wertungen, wie sie sich bei den Auseinandersetzungen um das Kopftuch, um das Schächten oder um die Religionsfreiheit zeigten, müssten folglich klar einander gegenübergestellt und die miteinander kollidierenden Grundrechte gegeneinander abgewogen werden. Wo dem Staat, wie in Religionssachen, eine eigene Meinung nicht gestattet sei, sei er neutral, nicht tolerant.

Die in der philosophischen Diskussion vorzufindenden Ansätze, derartige Konflikte über das Instrumentarium der Toleranz zu lösen, seien dagegen weniger überzeugend. Für die Entscheidung religiös motivierter Problemlagen durch staatliches Handeln müsse ein anderes Instrumentarium als der Toleranzgedanke herangezogen werden.

Im modernen Grundrechtsstaat verbleibe für den Gedanken der Toleranz nur der private Bereich; der Anwendungsbereich reduziere sich auf den einer bürgerlichen Verhaltenstugend.

* * *

Die Geschichte der institutionellen Toleranz ist weitgehend eine Geschichte der konfessionellen Konflikte im christlichen Europa.

Über Jahrhunderte hin gingen immer wieder Reformbestrebungen aus der „una sancta ecclesia“ hervor, und die Waldenserbewegung im 13. Jh. repräsentiert in diesem Kontext eine der frühen Divergenzen.

Konfessionelle Spaltungen wurden alsbald als eine Bedrohung der Einheit sowohl des Staates wie der Kirche betrachtet und weltliche und kirchliche Interessen verbündeten sich miteinander, um dem entgegenzuwirken.

Obwohl das religiöse Schisma in Europa nie mehr überwunden werden konnte, hat sich in den meisten Ländern doch eine einheitliche Nationalreligion erhalten, so in England, Frankreich, Italien, Schweden und Spanien.

Dies gilt nicht für Deutschland. Hier hat sich, begünstigt durch eine verspätete Staatsbildung und durch die Tatsache, dass die miteinander streitenden Konfessionen etwa gleich stark waren, nie mehr eine einheitliche Staatsreligion etabliert.

In Deutschland, wo die Religionskriege nicht weniger blutig waren als andernorts und im Dreißigjährigen Krieg gipfelten, war daher in einem stufenweisen Lernprozess eine erzwungene Toleranz die unausweichliche Folge. Diese Toleranz war keineswegs das Resultat politischer Weisheit und Friedensliebe oder kirchlicher Rückbesinnung auf die Nächstenliebe als Fundament des Glaubens, sondern diese gegenseitige Tolerierung wurde erzwungen durch die Erfahrung, dass man den Gegner weder bekehren noch vernichten konnte.

Der Augsburger Religionsfriede auf dem Reichstag von 1555 markiert einen auf solche Weise zustanden gekommenen frühen Ausgangspunkt zu mehr religiöser Toleranz.

Diese Vereinbarung zwischen König Ferdinand I. und den deutschen Reichsfürsten und Reichsstädten stellte nach jahrzehntelangen religiösen Auseinandersetzungen den Versuch dar, blutige Kämpfe wie in Frankreich zu vermeiden.

Die Kleinstaaterei in Deutschland stand einem schrankenlosen, nationalen Konfessionalismus wie im Frankreich Luwig’s XIV. entgegen.

Montaigne, Montesquieu, Voltaire und Rousseau haben das Deutschland ihrer Zeit als Hort der Toleranz geschätzt.

Aber der innerkirchliche Konflikt war nicht zu lösen.

Man verständigte sich daher darauf, dass es in jedem der vielen Territorialstaaten zwar nur eine Religion geben solle, - „cuius regio, eius religio“, wer regiert, bestimmt die Religion -, dass aber für das Reich insgesamt als oberster Grundsatz die Tolerierung des Nebeneinander zu gelten habe. Das Ketzerrecht wurde aufgehoben und den andersgläubigen Untertanen unter Belassung ihres Besitzes ein Auswanderungsrecht eingeräumt. Hiervon machten die an die Scholle gebundenen Bauern jedoch kaum Gebrauch.

Der Augsburger Religionsfrieden war daher weder der Aufbruch zu einer umfassenden Toleranz in Glaubensfragen, noch war er einem Toleranzgedanken geschuldet, wie er aus skeptischen Zweifeln an der Erkennbarkeit des wahren Glaubens erwächst. Einem solchen Gedanken begegnen wir erst an der Schwelle zum 19. Jh. in der Ring-Parabel von Ephrahim Lessing..

Erreicht war ein erzwungener, weltlicher Friede. Der geistliche Kampf ging jedoch weiter und mündete bereits nach etwa 60 Jahren in den Dreißigjährigen Krieg von 1618 – 1648, in dem sich vor allem auch europäische Machtinteressen entluden.

Als es endlich 1648 zum Westfälischen Frieden kam, wurden die Augsburger Vereinbarungen bestätigt und erweitert. So wurden neben den Lutheranern und den Katholiken nun auch die Calvinisten anerkannt. Und die Landesherren wurden ermuntert, es geduldig zu ertragen - „patienter tolerentur“ -, wenn jemand zu einer anderen Religion wechseln wolle.

Dieser Beginn einer religiösen Toleranz wurde im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts zur allgemeinen Glaubens- und Gewissensfreiheit erweitert.

In Deutschland wurde dann die Territorialisierung der Konfessionen durch die gewaltigen Wanderungsbewegungen nach dem Ende des II. Weltkrieges fast vollständig aufgehoben.

* * *

Man kann sich abschließend die Frage stellen, woher unsere Fähigkeit, Toleranz, und damit verwandt, Altruismus zu üben, überhaupt kommt und wie sie sich erklärt.

Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass auch schon unsere Vorfahren in bestimmten Situationen tolerant sein konnten. Und auch deren Vorfahren waren nicht bar jeder Toleranz. Hierbei denke ich schon in Kategorien von 20 000 und 30 000 Jahren.

Nun halte ich dafür, dass eine rein anthropomorphe Betrachtungsweise es uns verwehren würde,die frühen, wenn auch noch sehr schwachen Wurzeln unserer Fähigkeit zu Toleranz und Altruismus zu erkennen.

So berichteten kürzlich Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig davon, dass Schimpansen ihren Artgenossen und sogar ihnen unbekannten Menschen, spontan und selbstlos Hilfe leisten, auch wenn sie dabei keinerlei Aussicht auf eine Belohnung haben. Auch für den renommierten Primatenforscher Frans de Waals steht seit langem außer Frage, dass Schimpansen zu Anteilnahme und altruistischem Handeln fähig sind, beides Voraussetzungen für ein tolerantes Verhalten.

Wir Menschen sind vor allem soziale Wesen und nicht nur unsere gesamte Kultur und alle unsere Errungenschaften gründen sich hierauf, sondern selbst das Überleben wäre uns als isoliertes Individuum weder physisch noch psychisch möglich.

Man datiert sogar die Menschwerdung auf den Tag zurück, an dem es einem unserer Vorfahren zum ersten Mal gelang, - und dies ist ein Maß für die Höhe der Geistesentwicklung-, sich in die Gedanken und Absichten, und vielleicht sogar in die Gefühle seines Gegenübers hineinzuversetzen.

Dies scheint in der Tat eine entscheidende Komponente für die Entwicklung von Toleranz zu sein.

Zu den uns angeborenen Eigenschaften gehört eine starke und wahrscheinlich zunächst überlebenswichtige Neigung zur Aggressivität. Als Gegengewicht und gewissermaßen zum Ausgleich wurde uns jedoch gleichzeitig die Möglichkeit zu tolerantem Verhalten als Erbe mitgegeben.

Wir müssen daher erkennen, dass die Fähigkeit, Toleranz üben zu können, eine Voraussetzung und eine Vorbedingung für unsere eigene Existenz ist.